Auch Geschäftsmodelle müssen immer wieder hinterfragt und weiterentwickelt, zuweilen völlig neu „erfunden“ werden. Manchmal sind es einschneidende Krisen, die den Anlass zu einer neuen Sicht auf das eigene „Geschäft“ geben und damit oft unvermutete Chancen eröffnen. Im Folgenden schildern wir, wie die im ersten Teil dieser Serie erwähnten „Bausteine“ von Geschäftsmodellen als Anregungen für das Ideenmanagement genutzt werden können, und stellen als Praxisbeispiel ein bei der Lufthansa Technik konzipiertes Geschäftsmodell vor.
Hinweis der Redaktion: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in diesem Artikel die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.
Wahrscheinlich gibt es ebenso viele Geschäftsmodelle wie Unternehmen – jedes ist einzigartig und ein bisschen anders. Wie im ersten Teil dieser Serie erwähnt, lassen sich jedoch laut Gassmann et al. wiederkehrende Muster erkennen. In ihrem Buch „Geschäftsmodelle entwickeln“ beschreiben sie rund 60 solcher Muster, die sie in immer wieder anderen Kombinationen als konstituierende Elemente der unterschiedlichsten Geschäftsmodelle ausgemacht haben.
Ob diese Muster nun tatsächlich immer so eindeutig identifizierbar sind, ob noch zig weitere hinzukommen könnten, oder ob die Zahl durch eine bessere Clusterung erheblich schrumpfen würde – das alles spielt für die folgenden Überlegungen keine Rolle. Denn die aufgelisteten Muster lassen sich in jedem Fall als Anregungen verwenden, um das eigene Geschäftsmodell zu überdenken und durch Rekombinationen neue Modelle zu entwerfen und gedanklich durchzuspielen. Dass solche Gedankenspiele nicht nur Spaß machen, sondern auch für konkrete Konzepte und Umsetzungen in der Realität hilfreich sein können, zeigen wir im zweiten Abschnitt anhand des Praxisbeispiels für die Lufthansa Technik.
Zuvor laden wir Sie jedoch zum „Spielen“ ein. Dazu greifen wir eine Auswahl der von Gassmann et al. beschriebenen Muster auf und ordnen ihnen in freier Assoziation mögliche Anwendungen und Ausprägungen im Ideenmanagement zu – sozusagen als Brainstorming ohne Anspruch auf „Richtigkeit“ oder konzeptionelle Ausführbarkeit. Bei einigen Mustern weisen wir allerdings auch auf reale Praxisbeispiele hin, in denen sie sich wiederfinden lassen.
„Add-on“: Basis-Ideenmanagement plus Zusatzmodule (z.B. Betreuung, Marketing, Schulung). Das Praxisbeispiel der Lufthansa Group finden Sie untenstehend.
„Affiliation“: Dritte profitieren, wenn ein Mitarbeiter einen Vorschlag einreicht. Praxisbeispiele:
Das Muster fände sich auch, wenn die Einreicher eines Teams entscheiden können, ob sie sich ihre individuelle Prämie, die dann den üblichen Steuer- und Sozialabgaben unterliegt, auszahlen lassen wollen, oder ob das Unternehmen aus allen Prämien der Einreicher des Teams einen Gebrauchsgegenstand (z.B. Kaffeeautomaten) beschafft. Weil dieser nur als Betriebsausgabe zu versteuern wäre, wäre er viel höherwertig als die Summe der ausbezahlten Einzelprämien. Alle Teammitglieder (einschließlich der Nicht-Einreicher) würden profitieren.
„Aikido“: Auf Spontanität und Zufall statt auf Systematik setzen. Dieses Muster ist in jedem Ideenmanagement realisiert, das auf die spontan und häufig wie zufällig entstandenen Ideen der Mitarbeiter setzt.
„Barter“ (Tauschgeschäft): „Verbesserung“ im Tausch gegen „Unterstützung von Seiten der Unternehmensleitung“. Oder auch: „Naturalien“ statt monetärer Prämien. Praxisbeispiele finden sich in Unternehmen, die bestimmte Vorschläge ausschließlich mit Sachprämien honorieren.
„Crowdfunding“: Mitarbeiter und Führungskräfte können eigene Budgets (an Arbeitszeit, Finanzmittel) für die Bearbeitung und Umsetzung von Vorschlägen einbringen. Beim Kennzahlenvergleich Ideenmanagement 2021 haben zehn Unternehmen angegeben, Crowdfunding zu ermöglichen.
„Crowdsourcing“: Die gezielte Ideensammlung in Kampagnen ist eine Form, die Kreativitätsressourcen der „Crowd“ zu erschließen. Etwa die Hälfte der Unternehmen, die am Kennzahlenvergleich Ideenmanagement 2021 teilgenommen haben, nutzt Kampagnen (siehe Abbildung 4 im Blogbeitrag zu den Ergebnissen). Praxisbeispiele finden Sie im Blogbeitrag „Kampagnen, Wettbewerbe und andere Sonderaktionen – Praxisbeispiele“.
„Customer Loyality“: Bonusprogramme für (Mehrfach-)Einreicher. Praxisbeispiele finden sich in Unternehmen, die Einreicher-Clubs gebildet haben oder Prämienshops nutzen.
„Digitalization“: Terminals für die Eingabe und Nachverfolgung von Vorschlägen, Chatbots zur virtuellen Kommunikation und Lernvideos sind nur einige konkrete Realisierungen, für die es zahlreiche Praxisbeispiele gibt (siehe z.B. die Blogbeiträge „Künstliche Intelligenz für das Ideenmanagement“ und „Erfolgsfaktor 9/9 – Ressourcen: Know-how“).
„Experience Selling“: Gestaltung der Kontaktpunkte mit dem Ideenmanagement als „Erfahrungsräume“ oder „Erlebnisräume“ (siehe den Blogbeitrag zum „Neuromarketing“).
„Flatrate“: Pauschalprämie für alle Vorschläge. Praxisbeispiel:
„Freemium“: Der Einstieg erfolgt über eine allgemeine Kommunikationsplattform, in die auch Beiträge eingestellt werden können, die den Ansprüchen an Vorschläge nicht genügen. Für diese Beiträge gibt es weder eine Feedbackgarantie noch eine Aussicht auf Prämierung.
„Layer Player“: Das Ideenmanagement als Spezialist für alle Unternehmensbereiche (siehe die Beschreibungen des „Servicemodells“ und des „Plattformmodells“ im Blogbeitrag „Geschäftsmodelle für das Ideenmanagement – Teil 3: Architektur der Wertschöpfung“).
„License“: Vorschläge werde vom Unternehmen „in Lizenz“ genutzt. Der Einreicher erhält während der gesamten Nutzungszeit eine jährliche Lizenzgebühr.
„Long Tail“: Jede Idee wird als „Nischenprodukt“ betrachtet – auch viele kleine Verbesserungen bringen in der Menge bzw. Summe einen erstrebenswerten Nutzen. Dieses Muster entspricht dem Grundgedanken von KVP und Kaizen.
„Make more of it“: Aktive Förderung der Mehrfachnutzung einzelner Vorschläge im Sinne des Best Practice Sharings und Wissensmanagements. Praxisbeispiele finden sich in Unternehmen, die eine Übertragung von umgesetzten Vorschlägen auf andere Standorte systematisch unterstützen. „Make more of it“ könnte zudem bedeuten, die Kernkompetenzen des Ideenmanagements auch für andere Aufgaben anzubieten.
„Mass Customization“: Jeder Mitarbeiter kann sein eigenes Eingabetool, jede Führungskraft ihre eigene Bewertungsoberfläche oder ihr eigenes Dashboard mit Kennzahlen des Ideenmanagements gestalten.
„Open Business Model“: Das Ideenmanagement für Externe öffnen. Dies praktizieren 21 Prozent der Unternehmen, die am Kennzahlenvergleich Ideenmanagement 2021 teilgenommen haben.
„Pay per Use“: Prämien nur bei Umsetzung. Dies entspricht der gängigen Praxis in einem wachsenden Anteil der Unternehmen.
„Pay what you want“: Der Einreicher legt selbst fest, wie hoch seine Prämie sein soll.
„Robin Hood“: Für jeden (eingereichten oder umgesetzten) Vorschlag gibt das Unternehmen eine Spende für einen guten Zweck. Der Einreicher wird mit einem „gutes Gewissen“ belohnt (zusätzlich zur regulären Prämie). Praxisbeispiele:
Wie die obige Aufzählung deutlich macht, gibt es wohl kaum ein Unternehmen, das nicht schon längst gleichzeitig mehrere der genannten Muster verwendet. Diese Muster einmal in ihrer grundsätzlichen Funktion für Geschäftsmodelle zu betrachten und dann wieder als Anregung für konkrete Weiterentwicklungen des eigenen Ideenmanagements zu nutzen, kann unserer Erfahrung nach sehr inspirierend wirken.
In diesem Sinne wiederholen wir unsere bereits eingangs geäußerte Einladung zum „Spielen“:
Greifen Sie sich einfach verschiedene Muster als „Bausteine“ heraus und spielen Sie gedanklich durch, zu welchen konzeptionellen „Gebäuden“ für Ihr Ideenmanagement sie zusammengesetzt werden können. Wir wünschen Ihnen viel Spaß und weiterführende Ergebnisse!
Zu den Autoren:
Dr. Hartmut Neckel ist einer der profiliertesten Vordenker und erfahrensten Praktiker im Themenbereich Ideenmanagement, Innovation und kontinuierliche Verbesserungsprozesse. >> Mehr
Kontakt: kontakt@hartmut-neckel.de
Dr. Oliver Reichel-Busch, geb. 1973, lebt mit seiner Familie in Hamburg. Nach dem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der TU Darmstadt und der Promotion an der TU Berlin startete er seine Karriere im Lufthansa Konzern im Führungskräftenachwuchsprogramm. Nach verschiedenen Stationen u.a. als Produktionsleiter in der Fahrwerksüberholung der Lufthansa Technik AG verantwortet er seit 2019 das Ideenmanagement der Lufthansa Group.
Kontakt: oliver.reichel-busch@lht.dlh.de