Im Blogbeitrag vom 12.02.2021 ging es um Konsequenzen der Art und Weise, wie das Gehirn unsere Wirklichkeit konstruiert. In diesem Beitrag stehen die Strukturen und Abläufe innerhalb des Gehirns im Vordergrund, auf denen diese Funktionsweise beruht. „Neuroideenmanagement“ berücksichtigt deren Relevanz für das Ideenmanagement.
Auch in diesem Beitrag lade ich Sie wieder zum fröhlichen Assoziieren ein. Assoziative Impulse werde ich mit >>> kennzeichnen und ggf. auf entsprechende Links im Internet hinweisen.
Im Blogbeitrag vom 12.02.2021 wurden Neuronen und neuronale Netze zwar erwähnt, aber der Aufbau des Gehirns aus Nervenzellen (den Neuronen) und deren Zusammenwirken kamen noch nicht zur Sprache. Dabei sind sie es, die für ein Verständnis der Abläufe im Gehirn beim Wahrnehmen, Denken und Verstehen hilfreich sind.
>>> Könnte es sein, dass für unsere Fähigkeit zu denken eine spezielle „Hirnsubstanz“ verantwortlich ist, wie sie Christian Morgenstern in seinem Gedicht „Das Butterbrotpapier“ beschreibt?
>>> Was Offenheit und Weite im Gegensatz zu Begrenztheit und Enge des Denkens bedeuten, zeigt der Umgang mit einem Verbesserungsvorschlag, der vor Jahren bei der Egon Grosshaus GmbH eingereicht worden war. Er hatte zum Inhalt, den Mitarbeitern vorzuschreiben, nur noch Butterbrotdosen zu verwenden, damit das Müllaufkommen reduziert wird. Ich muss gestehen, dass ich nach Kenntnisnahme dieses Vorschlags bis hierher nur darüber nachdachte, was ich empfehlen könnte, wie man ihn möglichst respektvoll ablehnt. Die Zuständigen im Unternehmen dachten glücklicherweise weiter. Sie nahmen auch den Hintergrund zur Kenntnis, dass die Einreicherin zu ihrer Idee durch eine entsprechende Vorschrift in der Kita ihres Kindes angeregt worden war. Und sie nahmen den Vorschlag zum Anlass für eine Aktion, jedem Einreicher bei seinem nächsten Vorschlag eine Butterbrotdose zu schenken, die mit Obst, Schokolade und einem Gutschein für die Kantine gefüllt war (siehe Abbildung 1).
>>> Besuchen Sie das Musée Rodin in Paris und leisten dem „Denker“ beim Denken Gesellschaft.
Blickt man mit entsprechender Vergrößerung ins Gehirn hinein, werden die einzelnen Neuronen erkennbar (Abbildung 2).
Abbildung 2: Nervenzelle, aufgenommen bei einer Maus (Quelle: Wikimedia)
Deren prinzipieller Aufbau und die Rolle der verschiedenen Teile bei der Informationsverarbeitung im Gehirn werden in Abbildung 3 gezeigt.
Abbildung 3: Für die Informationsverarbeitung wesentliche Teile eines Neurons (Quelle: Ulrich Helmich)
Für die Signalaufnahme hat jedes Neuron einige Tausend Dendriten. Die Signale werden im Zellkern verarbeitet und über das Axon und die Synapsen an andere Nervenzellen weitergleitet.
Die Übertragung der Signale an den Synapsen erfolgt über sogenannte „Botenstoffe“ (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: Botenstoffe überbrücken den synaptischen Spalt (Quelle: www.dasgehirn.info, geringfügig bearbeitet)
Wie gut (oder schlecht) das funktioniert, wird durch die Körperchemie beeinflusst – also durch Hormone und Neuromodulatoren. Typische Chemikalien, die dabei eine Rolle spielen, sind beispielsweise Dopamin, Adrenalin, Glutamat (um nur einige zu nennen).
Gewisse Grundstrukturen des Gehirns sind genetisch bedingt und hängen vom biologischen Geschlecht ab. Das Gleiche gilt für die Ausformung der für die Körperchemie zuständigen Drüsensysteme. Auf diese Weise kommt es zu individuellen Dispositionen und Veranlagungen, die damit in der „Hardware“ weitgehend festgeschrieben sind.
Im Rahmen dieser Grundstrukturen ist ein breites Spektrum verschiedener Ausformungen der neuronalen Architektur möglich – je nachdem, welche Verbindungen zu dauerhaften Vernetzungen stabilisiert werden.
Was geschieht nun mit den Neuronen und ihren Verbindungen, wenn wir wahrnehmen, denken und lernen?
Abbildung 5 veranschaulicht, was auf neuronaler Ebene geschieht, wenn man bestimmte Dinge häufiger tut – Gedanken denkt, Handlungen ausführt – und die entsprechenden neuronalen Netzwerke dementsprechend häufiger aktiviert werden: Die Synapsen feuern öfter, und wenn sie das häufiger tun, werden …
… mehr Botenstoffe freigesetzt,
… die Synapsenflächen größer und die Postsynapsen sensitiver,
… neue Kontaktstellen ausgebildet.
Abbildung 5: Veränderungen an den Synapsen bei häufiger Nutzung (Quelle: www.dasgehirn.info, geringfügig bearbeitet)
Nicht nur die Leber wächst also mit ihren Aufgaben – auch das Gehirn (gemessen an den neuronalen Verknüpfungen) wächst und schrumpft damit, wie man es benutzt! Die Verbindungen, die gestärkt und stabilisiert werden, gleichen Trampelpfaden (wie dem in Abbildung 6 gezeigten), die um so breiter werden, je öfter sie genutzt werden. Werden sie nicht mehr benutzt, verschwinden sie allmählich wieder. Je nachdem, wie und wofür unser Gehirn bisher genutzt wurde, bildet sich so eine neuronale Architektur mit vielen Bahnungen – wie in einem dreidimensionalen Landschaftsgarten.
Abbildung 6: Neuronale Bahnungen gleichen mehr oder weniger stark ausgetretenen Pfaden (Quelle: Wikipedia)
Worauf es für die Funktionsweise und Leistungsfähigkeit des Gehirns am Ende ankommt, ist nicht die Anzahl der Nervenzellen, sondern die Zahl und Struktur der Verbindungen zwischen den Neuronen. Wie unser Gehirn funktioniert und wofür wir es nutzen können, hängt somit davon ab, wie und wofür wir es bisher genutzt haben. Wie schon erwähnt, spielt außerdem die Körperchemie eine große Rolle – wird etwa in Stressmomenten ein Übermaß der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt, ist die Denkfähigkeit meist eingeschränkt.
Die oben genannte unvorstellbar große Anzahl von Verbindungen zwischen den Nervenzellen bedeutet übrigens, dass ein Signal nach drei synaptischen Übertragungsschritten wieder die Ausgangszelle erreicht – das heißt: Das Gehirn ist vor allem mit sich selbst beschäftigt! Nur 0,1% aller Verbindungsfasern werden für Input und Output benötigt, der Rest dient der internen Verdrahtung.
Dass sich die Verschaltungen in unserem Gehirn erst nach der Geburt in einem jahrelangen (und letztlich nie endenden) Prozess bilden, hat einerseits den Vorteil, dass wir vom Erfahrungsschatz früherer Generationen lernen können und enorm anpassungsfähig sind.
Aufgrund all dieser Erfordernisse entwickelte sich das Gehirn in der Evolution zu einem „Sozialorgan“. Das beschreibt Gerald Hüther in seinem Buch „Was wir sind und was wir sein könnten“ so: „In all jenen Bereichen, in denen es sich von tierischen Gehirnen unterscheidet, wird das menschliche Gehirn durch Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen geformt und strukturiert. Unser Gehirn ist also ein soziales Produkt und als solches für die Gestaltung von sozialen Beziehungen optimiert. Es ist ein Sozialorgan.“
>>> Wie gut das Gehirn für die schnelle Beurteilung zwischenmenschlicher Situationen ausgelegt ist, zeigt ein Experiment, das Paul Lawrence und Nitin Nohria in ihrem Buch „Driven. Was Menschen und Organisationen antreibt“ (Klett-Cotta, 2003) beschreiben. Man soll herausfinden, ob die Aussage stimmt: „Wenn auf der einen Seite einer Karte D steht, dann steht auf der anderen eine 3“. Wenn Sie den Wahrheitsgehalt anhand von vier Karten überprüfen sollen, die „D“, „F“, „3“ und „7“ zeigen – welche müssten Sie umdrehen? Die meisten Menschen wählen „D“ oder „D und 3“. Nur 5 bis 10 Prozent wählen die richtige Lösung „D und 7“.
Dann wurden die abstrakten Buchstaben und Zahlen dieser Aufgabe durch eine in der Logik identische Fragestellung mit sozialer Bedeutung ersetzt. Es galt nun die Regel durchzusetzen: „Wenn eine Person Bier trinkt, muss sie 18 Jahre oder älter sein“. Bei welcher Person müssen Sie Alter oder Getränk überprüfen: dem Biertrinker, der Safttrinkerin, dem 25jährigen oder der 16jährigen? Hier fällt die Wahl der richtigen Lösung (Biertrinker und 16jährige) den meisten Menschen sehr viel leichter.
Als Sozialorgan hat das Gehirn sogar eine besondere Sorte von Neuronen – die Spiegelneuronen. Sie lassen uns nachvollziehen (auch emotional), was wir bei anderen beobachten. Die Spiegelneuronen sind etwa dafür verantwortlich, dass wir im Kino ansatzweise die Gefühle haben, die wir hätten, wenn wir uns real im Geschehen auf der Leinwand befänden.
Abbildung 7: Menschen brauchen für ihre Entwicklung andere Menschen
Abgesehen von basalen Lebensfunktionen, die vom Stammhirn gesteuert werden, haben wir alles, was wir heute können und wissen, in Prozessen der Sozialisation und Enkulturation von anderen Menschen abgeguckt und gelernt. Ich finde es spannend, sich zu vergegenwärtigen, was dies „alles“ umfasst (siehe Abbildung 8):
Abbildung 8: Einige Beispiele für kulturabhängige „Lerninhalte“, die nach der Geburt strukturell im Gehirn abgebildet werden (in wörtlich zu nehmenden „Bildungs“-Prozessen)
All dies ist in Form von neuronalen Strukturen in unserem Gehirn gespeichert, die (wie oben geschildert) erst nach unserer Geburt entstanden sind – und bei vielem davon unterscheiden sich die Vorstellungen zwischen verschiedenen Kulturen und sozialen Kontexten ganz erheblich.
>>> Das Risiko, in Fettnäpfchen zu treten, wenn man die eigenen Vorstellungen zu sehr verallgemeinert, demonstriert in der Serie „The Crown“ (in der zweiten Folge der ersten Staffel) Prinz Philip, als er in Kenia einen Kopfschmuck als „Hut“ bezeichnet, der für seinen Träger eine „Krone“ darstellt.
>>> Die erfrischende Wirkung einer Pippi Langstrumpf-Lektüre besteht nicht zuletzt darin, dass Pippi die Vorstellungen dessen, wie man etwas macht und wofür etwas zu nutzen ist, immer wieder auf den Kopf stellt.
Bei vielen der in Abbildung 8 genannten „Dinge“ handelt es sich um Konzepte von etwas, das es ohne unsere mentalen Vorstellungen gar nicht gäbe und das keine Entsprechung in der materiellen Welt hat – etwa Gerechtigkeit und Demokratie. Dank der bereits erwähnten selbstbezüglichen Struktur des Gehirns können unsere Gehirne davon trotzdem wunderbare Vorstellungen entwickeln und dank der Sprache können wir dann trefflich darüber streiten, welche Vorstellungen „richtig“ sind.
>>> Welche Vorstellung haben Sie von Ihrem „Ich“? Täuschen Sie sich, wenn Sie die Abbildung 1 im Blogbeitrag vom 12.02.2021 betrachten – oder werden Sie von Ihrem Gehirn getäuscht?
>>> Lesen Sie im Gedicht „Die Behörde“ von Christian Morgenstern, wie sich Herr Korf als Person vorstellt, die „nichtexistent im Eigen-Sinn bürgerlicher Konvention“ ist.
>>> Goethe, der ja auch viel mit Worten hantierte, lässt es Mephistopheles aussprechen (Faust 1, Studierzimmer, Verse 1997-1998): „Mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten“…
>>> Die Entstehung und die Wirkweise der in unseren Gehirnen verschalteten Vorstellungen beschreibt Gerald Hüther in seinem Buch „Die Macht der inneren Bilder“.
Sich etwas vorstellen zu können, was es (noch) gar nicht gibt, also Entwürfe und Pläne für die Zukunft machen zu können und sich darüber anderen Menschen mitteilen zu können, war im Laufe der Evolution ein entscheidendes Plus (und ist es immer noch). Es ermöglichte, gemeinsam komplexe Vorhaben in Angriff zu nehmen und zum Erfolg zu führen. Früher waren das vielleicht Jagden zur Nahrungsbeschaffung, später das Anlegen von Bewässerungsanlagen, der Bau von Häusern und Städten, das Erkunden eines westlichen Seewegs nach Indien oder Flüge zum Mond und zu anderen Planeten.
Um es nochmals zusammenfassend zu betonen:
Diese Überzeugungen, Vorstellungen und Verhaltensmuster können aber auch während des ganzen Lebens wieder verändert werden: Indem neue Vernetzungen gebahnt und alte Verbindungen wieder aufgelöst werden (siehe oben).
Ideenmanagement will natürlich auch selbst möglichst gut in den neuronalen Strukturen aller Mitarbeiter verankert sein – am besten so, dass es zwischen den verschiedenen Gehirnen ein hohes Maß an Übereinstimmung der Vorstellungen von seiner positiven Bedeutung gibt! Immer wieder geeigneten Input zu geben, der für entsprechende Bahnungen sorgt, ist Aufgabe des internen Marketings für das Ideenmanagement. Wie „Neuromarketing“ für das Ideenmanagement aussehen kann, skizziere ich in einem nachfolgenden Blogbeitrag.
Es ist zwar in diesem und dem vorigen Blogbeitrag fortwährend vom „Gehirn“ die Rede – es sollte aber klar sein, dass das Gehirn untrennbar mit dem Körper verbunden und letztlich ein Organ wie alle anderen ist. Ein einzelnes Organ oder Körperteil herauszugreifen und nur für sich zu betrachten, mag für manche Belange angemessen und ausreichend sein, während man anderen nur gerecht wird, wenn man den gesamten Organismus ganzheitlich betrachtet.
Eine Trennung nach dem Motto: „Hier der Körper, der die Sinneseindrücke liefert – dort das Gehirn, das die Eindrücke verarbeitet und den Körper steuert“, ist nicht sinnvoll. So wie Gedanken und Emotionen auf den Körper und seine Aktivitäten wirken, beeinflussen körperliche Bewegung, Atmung, bewusstes Lächeln und nach oben Schauen wiederum unsere neuronalen Aktivitäten und mentalen Zustände.
Eine umfassende Beschreibung für kognitive Prozesse bietet das Konzept der „4E-Kognition“. Dabei stehen die 4 „E“ für die Begriffe „embodied“, „enacted“, „embedded“ und „extended“, die im Folgenden und in Abbildung 9 näher erläutert werden.
Abbildung 9: Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und andere mentale Prozesse sind stets körperbasiert (1), handlungsbezogen (2), in das physikalische, soziale und zeitliche Umfeld eingebettet (3) und durch die Nutzung von (äußeren) Gegenständen erweitert (4).
Lesen Sie mehr in den nachfolgenden Blogbeiträgen dieser Serie zum „Gehirn als Lustsucher“ und zum „Gehirn als Assoziationsmaschine“.
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