Ideen entstehen in Gehirnen. Und auch alle Prozesse zum Management von Ideen finden in Gehirnen statt. So, wie Neuromarketing versucht, Erkenntnisse der Neurobiologie auf das Marketing anzuwenden (was auch für das interne Marketing des Ideenmanagements interessant ist), geht es im „Neuroideenmanagement“ darum, die Funktionsweisen unserer Gehirne im Hinblick auf deren Relevanz für das Ideenmanagement zu beachten.
Für viele Anliegen des Ideenmanagements ist es nützlich, eine gewisse Vorstellung davon zu haben, wie Gehirne aufgebaut sind und wie sie funktionieren. Damit beschäftige ich mich in diesem Beitrag und drei weiteren Blogbeiträgen:
Da neue Ideen meist dank neuer Assoziationen entstehen, lade ich Sie von Anfang an zum fröhlichen Assoziieren ein – auch in der Annahme, dass Personen, die selbst offen für Rundumblicke über den Tellerrand sind, inspirierende und erfolgreiche Ideenmanager sind. Assoziative Impulse werde ich mit >>> kennzeichnen und ggf. auf entsprechende Links im Internet hinweisen.
Verbesserungspotentiale müssen bemerkt und vom Einreicher bewusst wahrgenommen werden, damit entsprechende Ideen entwickelt und vorgeschlagen werden können. Die Entstehung von Verbesserungsvorschlägen ist damit (auch) eine wahrnehmungstheoretische Fragestellung: Wie kommt das zustande, was uns als wahrgenommene (= für „wahr genommene“) Wirklichkeit bewusst wird? Was passiert dabei in unserem Gehirn?
Betrachten Sie als Beispiel bitte Abbildung 1 und beantworten die Frage, welcher Innenkreis größer ist:
Was Sie sehen (bzw. wie es im Gehirn erscheint), ist, dass der Innenkreis links größer ist. Natürlich wissen Sie, dass die beiden Innenkreise links und rechts genau gleich groß sind – irgend etwas ist also im Verarbeitungsprozess der visuellen Signale auf dem Weg vom Auge zu dem Teil des Gehirns, in dem die uns bewussten Bilder entstehen, schiefgelaufen. Das Gehirn hält das gleiche Objekt in der Umgebung kleinerer Objekte für größer, als es tatsächlich ist und umgekehrt.
>>> Auf eine ähnliche Art täuscht uns (bzw. sich) das Gehirn, wenn es den aufgehenden Mond dicht über dem Horizont viel größer aussehen lässt, als wenn er hoch am Himmel steht.
>>> Lesen oder singen Sie das Abendlied („Der Mond ist aufgegangen“) von Matthias Claudius.
>>> Nehmen Sie sich ca. 15 Minuten Zeit, um beim Hören von Beethovens „Mondscheinsonate“ Ihren Gedanken nachzusinnen.
>>> Gönnen Sie sich zwischendurch eine kleine Bewegungspause und üben Sie den Moonwalk…
>>> Weitere Beispiele zu Verarbeitungsfehlern visueller Signale finden Sie hier.
Bitte betrachten Sie nun Abbildung 2: Welche Zeichenfolge lesen Sie?
Abbildung 2: Was lesen Sie?
Vermutlich werden Sie die Buchstabenfolge „A B C“ gelesen haben. Das ist eine sinnvolle Interpretation, die Ihr Gehirn den Signalen aus Abbildung 2 gegeben hat.
Bitte blättern Sie weiter zur Abbildung 3: Welche Zeichenfolge lesen Sie hier?
Abbildung 3: Was lesen Sie?
Vermutlich werden Sie hier nun die Zahlenfolge „12 13 14“ gelesen haben. Auch das ist wieder eine sinnvolle Interpretation!
>>> Stellen Sie sich vor, Sie erhalten einen neuen Personalausweis mit der Kennung „L73YMN0ZV“. Was geben Sie in einem Onlineformular als drittletztes Zeichen ein – den Buchstaben „O“ oder die Zahl „0“? Hier hat Ihr Gehirn keine sinnvolle Vorlage gespeichert, also kann es auch keine schnelle Auflösung der Mehrdeutigkeit anbieten. Stattdessen müssen Sie sich mit langsamem Denken erschließen, dass von den ausstellenden Behörden wohl nur solche Buchstaben verwendet werden, die eine Verwechslung ausschließen. Dementsprechend geben Sie die Zahl „0“ ein.
>>> Lesen Sie mehr über „schnelles Denken, langsames Denken“.
Dass solche Interpretationsleistungen des Gehirns oft sehr zweckdienlich sind, zeigt Abbildung 4.
Abbildung 4: Sie knenön dseien Txet leesn
Auch hier „verfälscht“ das Gehirn ohne unser bewusstes Zutun die Signale, die vom Auge kommen so, dass aus den sinnlosen Buchstabenfolgen etwas Sinnvolles wird – wir lesen die Worte nicht so, wie sie hier geschrieben sind, sondern wie wir sie bereits kennen. Das geht natürlich nur, wenn wir sie bereits richtig gespeichert haben – für jemanden, der die deutschen Worte nicht kennt, bleiben diese Zeichen sinnlos, weil sein Gehirn keine Vorstellung davon hat, wie es daraus etwas Sinnvolles machen könnte.
>>> Ihm geht es dann so, wie den Zuhörern von Kurt Schwitters „Ursonate“, die mit den doch ziemlich sinnfreien Lauten „Fümms bö wö tää zää Uu, pögiff, kwii Ee“ beginnt.
>>> Dass es aber sehr entspannend sein kann (oder auch ein Zeichen bereits erreichter Entspannung), wenn man doch versucht, in sinnlose Formen Gestalten hineinzuprojizieren, erleben Sie, wenn Sie in am Himmel dahintreibenden Wolken Tiere, Fabelwesen oder sonst was erkennen.
>>> Kurt Schwitters war übrigens ein Meister der Collage – einer Kunst, Neues aus dem Zusammenfügen von Gegenständen zu schaffen, die gewöhnlich nichts miteinander zu tun haben.
>>> Besuchen Sie das Sprengel Museum in Hannover und lassen sich von den dort gezeigten Werken Kurt Schwitters inspirieren.
Neben bereits gespeicherten Vorlagen für die „richtig“ geschriebenen Worte nutzt unser Gehirn bei der Interpretation der an sich ja unsinnigern Buchstabenfolgen auch den Kontext der anderen Worte. Schließlich erwarten wir (bzw. das Gehirn) nicht nur, dass die einzelnen Worte Sinn ergeben, sondern auch die Sätze und der gesamte Text.
Die Abbildung 5 zeigt Ihnen eine Ansammlung von Klecksen.
Abbildung 5: Was sehen Sie?
Falls Sie in Ihrem Gehirn über eine mentale Repräsentation des Bilds eines Elefanten verfügen – was für die meisten Menschen der Fall ist – „sehen“ Sie in diesen Klecksen einen Elefanten. Das ist für Ihr Gehirn das beim Betrachten der Abbildung am schnellsten aktivierte neuronale Erregungsmuster. Es ist die nächstgelegene Möglichkeit, diesem Klecksmuster einen „Sinn“ zu geben.
>>> Die Geschichte von den „fünf Blinden und dem Elefanten“ ist ein schönes Gleichnis dafür, dass man viele Perspektiven braucht, um die „ganze Wahrheit“ zu erkennen – und ein gutes Argument pro Ideenmanagement, das ausdrücklich darauf setzt, alle Mitarbeiter einzubeziehen.
>>> Wie Teilnehmer an einem Führungskräftetraining zum Ideenmanagement dieses Gleichnis direkt an einem (z.B. von Auszubildenden gebauten) Elefanten „begreifen“ können, wird in Abbildung 6 gezeigt.
>>> Zeigt man den Auszubildenden zunächst nur die Baumaterialien (rechts unten eingeblendet) und lässt sie Ideen sammeln, was man daraus machen könnte, hat man gleich noch eine schöne Kreativitätsübung für eine Azubi-Schulung zum Ideenmanagement.
Abbildung 6: Erleben und „Begreifen“ von Mehrperspektivität
Der gleiche Mechanismus kommt zum Einsatz, wenn Sie den Text in Abbildung 7 lesen.
Abbildung 7: Was lesen Sie?
Die nur bruchstückhaft sichtbaren Zeichen werden gemäß der bereits gespeicherten Vorlagen der einzelnen Worte zum gesamten Bild ergänzt, und auch hier hilft der Sinnzusammenhang im Kontext der anderen Worte.
Als kleines Zwischenfazit lässt sich festhalten:
>>> An dieser Stelle bieten sich gleich zwei Goethe-Zitate an. Erstens (Zahme Xenien II, z.B. in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke in zehn Bänden, Stauffacher-Verlag Zürich, 1970, Band 1, Seite 336): „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.“ Zweitens (Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller, 24. April 1819): „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“
Die geschilderte Funktionsweise des Gehirns ist in vielen Fällen hilfreich – sonst hätten wir die Evolution nicht überlebt. Zuweilen bewirkt sie aber eher eine „Falsch-nehmung“ als eine „Wahr-nehmung“. Dies gilt nicht nur für Bilder (wie in Abbildung 1), sondern auch für die kognitive Verarbeitung unterschiedlichster Sachinformationen (wofür Daniel Kahnemann in seinem o.g. Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ eine Fülle von Beispielen gibt).
Neue Informationen vor allem so zu interpretieren, dass sie zu unseren bereits vorhandenen Vorstellungen passen, kann außerdem Lernprozesse behindern und dazu führen, dass wir die Welt nur noch durch unsere eigene „Brille“ wahrnehmen (ein Effekt, der durch die Vorauswahl der einem Nutzer in sozialen Medien überhaupt angebotenen Informationen noch gefährlich verstärkt wird).
Die in den Abbildungen 1 bis 5 und 7 gezeigten Inputmuster hatten eine relativ geringe Informationsfülle. Die Informationsmenge, die wir in der realen Welt empfangen, entspricht dagegen eher dem Wimmelbild in Abbildung 8.
Abbildung 8: Was sehen Sie?
Tatsächlich liefern die Sinnesorgane etwa 1 Millionen Bytes pro Sekunde an Input. Das Gehirn muss also auswählen, was davon bewusst wahrgenommen werden soll.
Eine schnelle und unwillkürliche Auswahl trifft das Gehirn aufgrund seiner aktuellen Interessen, Bedürfnisse, Emotionen und Motive. Sie können den Fokus aber auch gezielt ausrichten – etwa, wenn Sie die Aufgabe bekommen, die Menschen in einem Bild zu zählen. Das erfordert dann bewusste Anstrengung und geht wesentlich langsamer.
Betrachten Sie bitte noch einmal kurz die Abbildung 8. Was tritt spontan in den Vordergrund Ihrer bewussten Wahrnehmung – was nimmt für Sie „Gestalt“ an und hebt sich vom Hintergrund ab – und was bleibt im Hintergrund und wird nur mit-bewusst oder unbewusst aus dem Augenwinkel wahrgenommen? Das sind typische wahrnehmungs- und gestalttheoretische Fragestellungen.
Mitarbeiter der Firma Dolezych GmbH aus Dortmund, mit deren freundlicher Genehmigung ich dieses Bild zeigen darf, erkennen hier natürlich sofort ihre Produkte für sicheres Heben und Transportieren. Auch für zahlreiche Anwender von Anschlagmitteln oder Hebezeugen sowie für Sicherheitsfachkräfte und -beauftragte werden die entsprechenden Situationen und Produkte schnell in den Vordergrund treten.
Abbildung 9: Was sehen Sie?
Wer schon als kleines Kind vom Hubschrauberfliegen geträumt hat, „sieht“ natürlich nur das in Abbildung 9 gezeigte Objekt, und eingefleischte Fußballfans „sehen“ nichts anderes (jedenfalls nicht bewusst) als die in Abbildung 10 gezeigte Szene. Sie haben nur Augen für diesen Ausschnitt der Wirklichkeit – ja: Dieser Ausschnitt ist ihre Wirklichkeit.
Abbildung 10
Fast jeder kennt den Effekt: Wenn man sich gerade dafür interessiert, ein bestimmtes Automodell zu kaufen, „sieht“ man dieses Modell plötzlich überall (wie in Abbildung 11).
Abbildung 11
Auf die der selektiven Wahrnehmung zugrundeliegenden Mechanismen im Gehirn gehe ich im späteren Blogbeitrag zum „Gehirn als Lustsucher“ noch näher ein.
>>> Den Einfluss des emotionalen Zustands auf die bewusste Wahrnehmung drückt Baptiste im Film „Kinder des Olymp“ so aus: „Wir haben sie zu mehreren betrachtet. Ich habe sie als einziger gesehen.“ (zitiert nach einer deutschen Bühnenfassung)
Anliegen des Ideenmanagements ist es nun, Mitarbeiter zu unterstützen, auch im größten „Gewimmel“ der Arbeitswelt noch die Verbesserungspotentiale wahrzunehmen.
Es stellt sich also die Frage, was das Ideenmanagement tun kann, damit die kleinen Vorfälle, die auf Verbesserungspotentiale hinweisen, auffallen und bewusst wahrgenommen werden. Offenbar ist es dafür hilfreich, wenn bereits gewisse Vorstellungen darüber vorhanden sind, worin Verbesserungen überhaupt bestehen können, und wenn das Thema Verbesserung für möglichst viele Mitarbeiter eine hohe Bedeutung hat. Es geht darum, „Lust auf Verbessern“ und „Lust auf Ideen“ zu wecken. Dazu muss nicht zuletzt auch das Ideenmanagement selbst Aufmerksamkeit finden, im Bewusstsein der Mitarbeiter präsent sein und Attraktivität ausstrahlen.
Lesen Sie dazu mehr in den nachfolgenden Blogbeiträgen zum „Gehirn als Sozialorgan“, zum „Gehirn als Lustsucher“ und zum „Gehirn als Assoziationsmaschine“.
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