„Radikale Innovationen“ sind ein viel diskutiertes Thema. Autoren, Politiker, Wissenschaftler und Konzernchefs fordern: „Wir brauchen mehr radikale Innovationen“. Aber was genau bedeutet „radikal“ im Zusammenhang mit Innovationen sowie Ideen und wo herrschen unternehmensspezifische Unterschiede? Die Popularität der Forderung nach radikalen Innovationen lohnt einen tieferen Blick auf die Thematik, vor allem, worin die Gründe hierfür liegen. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wie können Unternehmen ein internes Verständnis für radikale Innovationen sowie Ideen schaffen? Und wo liegen mögliche Handlungsbedarfe für Unternehmen im Zusammenhang mit dem Ideenmanagement?
Die Diskussion rund um radikale Innovationen hat in den letzten Jahren enorm zugenommen [2]. Oft wird in diesem Zusammenhang von der VUCA-Welt gesprochen, mit der sich Unternehmen konfrontiert sehen. Das englische Akronym VUCA (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) steht dabei für volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Rahmenbedingungen [3]. Diese veränderten Bedingungen fordern von Unternehmen neue und vor allen Dingen tiefgreifende Innovationen, sogenannte radikale Innovationen, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben [4–6].
Zum einen kann festgestellt werden, dass bei radikalen Innovationen die Begriffsvielfalt sehr hoch ist. So existieren zahlreiche Synonyme. Eine Befragung unter 73 Industrieexperten zeigte, dass im Deutschen hauptsächlich die Begriffe „disruptive“, „revolutionäre“, „einschneidende“ und „fundamentale“ Innovation Verbreitung finden. Im Englischen dagegen hat der Begriff „breakthrough innovation“ (dt. "bahnbrechende Innovationen") den höchsten Bekanntheitsgrad (vgl. Abb. 1). [2]
Im Kern wird mit dem Begriff radikal ein sehr hoher Neuheitsgrad ausgedrückt. Der Neuheitsgrad ist in der Innovationsforschung ein sehr facettenreicher und stark diskutierter Begriff. Um ihn zu beschreiben, werden zumeist Begriffspaare (sogenannte Dichotomien) genutzt. So wird im deutschsprachigen Raum häufig das Begriffspaar „radikal“ und „inkrementell“ zur Beschreibung der Extremausprägung des Neuheitsgrads genutzt (vgl. Abb. 2). Darüber hinaus existieren auch Modelle mit zusätzlichen Zwischenformen [7, 8], wie z. B. moderat innovative Innovationen.
Abbildung 2: Die Dichotomie „radikal“ – „inkrementell“ zum Ausdruck der Extrema des Neuheitsgrads
Tendenziell wird also mit einer radikalen Innovation eine Innovation mit hohem Neuheitsgrad beschrieben. Alternativ wird auch häufig der Begriff der disruptiven Innovation verwendet. Disruptive Innovationen oder Technologien können jedoch mit einer Verdrängung von Wettbewerbsprodukten oder sogar eigenen Unternehmensprodukten einhergehen. In der Folge bangen Unternehmen um ihre Existenz [9] .
Zwar mag bis hierhin klar geworden sein, dass der Begriff der radikalen Innovation eine besonders neue Innovation beschreibt. Dieser Begriff sollte jedoch immer aus unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet werden. So kann eine radikale Innovation für ein Unternehmen A schon in der Entstehungsphase, beispielsweise im Ideenmanagement, radikale Umbrüche bedeuten, während der Markt, der Kunde, und auch ein Konkurrenzunternehmen B, diese Innovation längst kennen. Ist eine Innovation aber sowohl für das innovierende Unternehmen als auch für den Wettbewerb, den Markt und den Kunden radikal – handelt es sich also um eine sogenannte „New-to-the-World-Innovation“ – ist diese Innovation aus vielerlei Hinsicht und somit aus mehreren Blickwinkeln als radikal zu bezeichnen. Entscheidend ist also, wie neu bzw. radikal eine Innovation ist – und für wen diese radikal neu ist [10]. An dieser Stelle wird auch klar, dass es notwendig ist, dass Unternehmen sich ihre ganz eigene Definition von „radikal“ schaffen sollten.
Häufig wird bei Best-Practice-Beispielen für radikale Innovationen Deutschland nicht an erster Stelle genannt. Stattdessen wird häufig auf andere Länder, allen voran auf die USA und speziell das Silicon Valley, verwiesen [11, 12]. Deutsche Unternehmen scheuen offenbar häufig das Risiko einer radikalen Innovation und streben nach Sicherheit in Form von „low hanging fruits“, das heißt schnellen und einfachen Neuerungen (inkrementelle Innovationen).
Dies zeigt auch die nachfolgende Grafik (vgl. Abb. 3) aus der bereits erwähnten empirischen Studie von Herrmann et al. [2]. Dabei wurden Industrieexperten befragt, ob sich deutsche bzw. europäische Unternehmen mehrheitlich zu sehr auf Weiterentwicklungslösungen bestehender Produkte fokussieren und zu wenig radikale Innovation hervorbringen.
Abbildung 3: Befragung von Experten zu Innovationsaktivitäten deutscher und europäischer Unternehmen
bezogen auf den Neuheitsgrad ihrer Produkte [2]
Beobachten lässt sich das vor allem in zahlreichen Ideenbewertungsworkshops. Neben tollen neuen Produktideen mit hohem Zukunftspotenzial und Chancen wird der Sicherheit und dem Risiko zu viel Gewicht geschenkt, so dass die groß angekündigte Innovation doch nur in einer Verbesserung des Bestehenden endet [13, 14].
Abbildung 4:Schneller Profit und die Angst vor Verlust und Risiko bestimmen Bewertungsprozesse im Ideenmanagement (Quelle Bild: Gino Crescoli, Pixabay)
Bei tieferem Blick auf Prozesse, Vorgänge und Handlungen der unternehmerischen Praxis fällt auf, dass bereits das Verständnis über radikale Innovationen stark differiert. Zwar behauptet die überwiegende Mehrheit industrieller Experten gemäß der bereits erwähnten Studie von Herrmann et al. [2], dass sie wüssten, was unter einer radikalen und inkrementellen Innovation zu verstehen ist. Bei genauerer Nachfrage zeigen sich aber deutliche Schwierigkeiten bei der Abgrenzung. Eine radikale Innovation wird oftmals deklariert als „etwas noch nie Dagewesenes“ bzw. als „etwas, das so noch nicht existent“ ist. Somit werden Veränderungen zum Bestehenden beschrieben, die allerdings vielerlei Perspektiven adressieren können. Diese Veränderungen können sich auf bestehende Unternehmensprodukte, Strategien, Zielmärkte, Herangehensweisen oder auch auf Kundenverhalten beziehen. So wird häufig mit radikalen Innovationen ein Fortsprung beschrieben statt eines Fortschritts, was eher auf inkrementelle Innovationen schließen lässt. [2]
Radikale Innovationen gehen in der Regel mit einem größeren Risiko für das umsetzende Unternehmen einher. Daneben schlagen aber auch Zeit-, Kosten- und Qualitätsvorteile zu Buche, wenn es gelingt, die radikale Innovation umzusetzen. Zudem bietet eine radikale Innovation aus Kundensicht einen hohen Nutzensprung bzw. einen Mehrwert. Aus Marktsicht kann damit ebenso eine tiefgreifende Veränderung einhergehen. [2]
Die Erkenntnisse der Studie [2] unterstreichen die subjektive Wahrnehmungsausprägung des Neuheitsgrads bzw. der Neuheitsgradextrema „radikal“ und „inkrementell“. Deren Charakterisierung geht also immer auch mit der Beantwortung der Fragen „Neu für wen?“ einher.
Um einige oft zitierte Beispiel für radikale und inkrementelle Innovationen zu nennen, sei auf die nachfolgende Tabelle verwiesen. Hier wird auch deutlich, dass es entscheidend ist, wann eine Innovation als radikal bezeichnet wird. So wird häufig das erste Auto oder das erste Smartphone als radikal gesehen, während Weiterentwicklungen hiervon bzw. Folgeprodukte eher als inkrementell gelten (vgl. Abb. 5). [2]
Radikale Innovationen | Inkrementelle Innovationen |
Erstes Smartphone (Apple iPhone) | Weiterentwicklung von Handys bzw. Smartphones |
Digitaltechnik (z. B. Kamera, Musik) |
Neue Fahrzeuggenerationen/ Modellreihen |
Kutsche ⇒ Auto | Fahrerassistenzsysteme (ACC) |
Internet | Optimierung bestehender Produkte (z. B. Akkulaufzeit, Spritverbrauch) |
Verbrennungsmotor ⇒ E-Motor | Softwareweiterentwicklungen/Apps |
Autonomes Fahren | Speicherplatzerweiterung am PC |
Abbildung 5: Beispiele für radikale und inkrementelle Innovationen. Nach [2]
All diese Beschreibungen und Argumente schildern die Vielschichtigkeit der radikalen Innovation. Es sollte also nochmals festgehalten werden, dass eine Definition für eine radikale Innovation immer verschiedene Perspektiven bzw. Betrachtungsdimensionen berücksichtigen sollte, um alle Einflüsse dieses Innovationstypus zu beachten. [2]
Wenn von radikalen oder inkrementellen Innovationen die Rede ist, sollte innerhalb von innovativen Unternehmen eine klare Definition der Begriffe geschaffen werden. Dies gilt gerade dann, wenn diese als strategisches Ziel ausgelobt werden. Für Mitarbeiter und für eine einheitliche Kommunikation mit Innovationsstakeholdern sollte ein einheitliches Verständnis geschaffen werden, wenn die verschiedenen Innovationsarten bzw. Neuheitsgradextrema thematisiert werden.
Forschungsseitig werden beispielsweise zur Schaffung einer Mess- bzw. Verständnislogik vier Perspektiven empfohlen [15]: Markt, Kunde bzw. Nutzer und umsetzendes Unternehmen (d. h. Unternehmensorganisation). Diese können herangezogen werden, um mittels unternehmensspezifischer Kriterien eine Mess- bzw. Definitionslogik zu schaffen, so dass auch in einem frühen Ideenstadium einer Innovation transparent und nachvollziehbar bestimmt werden kann, welche Idee als radikal und welche als inkrementell zu verstehen ist. Durch diese Einteilung kann auch ein für das Ideenmanagement unterschiedliches weiteres Vorgehen für die beiden Ideentypen geschaffen werden.
Diesem differierenden Vorgehen stimmt laut der Studie von Herrmann et al. [2] auch die unternehmerische Praxis zu (siehe nachfolgendes Bild). Viele Unternehmen bestätigen, dass sie kaum differenzieren zwischen Ideen mit unterschiedlichem Neuheitsgrad. Stattdessen werden häufig die immergleichen Methoden und Maßnahmen verfolgt, auch bei der Ideenbewertung. Damit gibt man risikoärmeren inkrementellen Ideen nicht nur den Vorzug – man befeuert regelrecht ihre weitere Verbreitung. Da dies bereits im Ideenprozess der Fall ist, ist auch hier ein Umdenken bestehender Routinen notwendig (vgl. Abb. 6), um zukünftig mehr radikale Innovationen hervorzubringen und das Streben nach der Verwirklichung besonders neuer Ideen auch innerhalb der Innovationskultur zu leben.
Abbildung 6:Befragung von Experten zu Innovationsaktivitäten deutscher und europäischer Unternehmen bezogen auf den Neuheitsgrad deren Produkte [2]
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der Umgang mit radikalen Innovationen bzw. Ideen weiterhin Forschungsarbeit erfahren sollte. Dies zeigt auch Abb. 7 [2].
Abbildung 7:Befragung von Experten zum Forschungsbedarf im Hinblick auf den Umgang mit radikalen Ideen im Innovationsprozess [2]
Neben weiteren Forschungsaktivitäten würde sicherlich auch die Verbreitung von Best Practice Beispielen oder realen Fallstudien aus der industriellen Praxis helfen, die Situation deutscher Unternehmen im Hinblick auf mehr radikale Innovationen zu verbessern.
Von Innovations- und Ideenmanagern werden zunehmend (besonders) innovative Ideen gefordert. In den meisten Unternehmen fehlt es auch gar nicht an diesen innovativen Ideen.
Entscheidend ist, mit diesen sogenannten radikal neuen Ideen richtig umzugehen. Dazu gehören: die richtige Analyse und Bewertung sowie die richtige Detaillierung und Ausarbeitung hin zur Innovation.
Hierin liegt ein sehr großes Unterstützungspotenzial. Beispielsweise kann eine auf radikale Ideen ausgerichtete Ideensoftware unterstützen.
Gleichzeitig wird es auch weiterhin wichtig sein, unternehmerische Innovationen zu verbessern und inkrementelle Ideen zu haben und zu managen. Das Nebeneinander der beiden Ideenarten erfordert in der heutigen VUCA-Welt somit duale Strukturen.
Machen Sie sich die folgenden Punkte bewusst bzw. stellen Sie die nachfolgend aufgeführten Fragen in Ihrem Unternehmen:
Bewusstsein für radikale Innovationen schaffen! Radikale Innovationen in der Innovationskultur und -strategie verankern!
„Wir brauchen in Zukunft mehr radikale Innovationen, um unser Unternehmen zukunftssicher auszurichten.“
Radikal exakt definieren!
Eigene unternehmensspezifische Definition schaffen! „Was genau bedeutet radikal für unser Unternehmen?“
Dual bereits im Ideenmanagement denken!
„Inkrementell bleibt wichtig, aber dazu muss es radikal neue Ideen geben, die anders angegangen werden müssen.“
Unterscheidungslogik schaffen! Messlogik für den Neuheitsgrad schaffen! „Wie kann in unserem Unternehmen einfach, eindeutig, nachvollziehbar und transparent der Neuheitsgrad einer Idee gemessen werden?“
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Quellenangaben
[1] Robertson, T.: Innovative behavior and communication. New York: Holt, Rinehart & Winston, 1971
[2] Herrmann, Thorsten; Roth, Daniel; Binz, Hansgeorg: Radikale Innovationen im Ideenmanagement: Eine empirische Erhebung zum Verständnis und zur Bedeutung von und zum Umgang mit radikalen Produktideen. In: Ideen- und Innovationsmanagement 45 (2019), Nr. 3, S. 72–80
[3] Schmidt, T. S.; Atzberger, A.; Gerling, C.; Schrof, J.; Weiss, S.; Paetzold, K.: Agile Development of Physical Products: An Empirical Study about Potentials, Transition and Applicability: Empirische Studie. München : Universität der Bundeswehr München, 2019
[4] Greiner, Oliver; Russo; Peter; Römer; Sylvie: Innovationsstudie 2009: Das verschwendete Innovationspotenzial - Geniale Ideen im Unternehmen finden und nutzen : Ergebnisbericht. Stuttgart: Horváth & Partner GmbH, 2009
[5] O'Connor, G. C.; Rice, M. P.: A Comprehensive Model of Uncertainty Associated with Radical Innovation. In: Journal of Product Innovation Management 30 (2013), S. 2–18
[6] Meyer, Jens-Uwe: Editorial. In: Meyer, Jens-Uwe (Hrsg.): Innolytics® Unternehmen fit machen für die Märkte von morgen. 2. Aufl. Göttingen: BusinessVillage GmbH, 2018, S. 5–8
[7] Hartschen, Michael; Scherer, Jiri; Brügger, Chris: Innovationsmanagement : Die 6 Phasen von der Idee zur Umsetzung. 1. Aufl. Offenbach: GABAL Verlag, 2009
[8] Kleinschmidt, E. J.; COOPER, R. G.: The impact of product innovativeness on performance. In: Journal of Product Innovation Management 8 (1991), Nr. 4, S. 240–251
[9] KPMG, KPMG International Cooperative; Veihmeyer, John (Mitarb.): Now or never: 2016 Global CEO Outlook. Schweiz, 2016.
[10] Hauschildt, Jürgen; Salomo, Sören; Schultz, Carsten; Kock, Alexander: Innovationsmanagement. 6. Aufl. München: Vahlen, 2016
[11] Herger, Mario: Das Silicon Valley Mindset : Was wir vom Innovationsweltmeister lernen und mit unseren Stärken verbinden können. Kulmbach: Plassen Verlag, 2016
[12] Keese, Christoph: Silicon Valley : Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt. 1. Auflage. München: Penguin Verlag, 2016 (Penguin 10033)
[13] Hagmann, Jean-Philippe: Hört auf, Innovationstheater zu spielen! : Wie etablierte Unternehmen wirklich radikal innovativ werden. 1. Aufl. München: Franz Vahlen, 2018
[14] Messerle, Mathias: Methodik zur Identifizierung der erfolgversprechendsten Produktideen in den frühen Phasen des Produktentwicklungsprozesses. Stuttgart, Universität, Institut für Konstruktionslehre und Technisches Design. Dissertation. 2016
[15] Herrmann, Thorsten; Roth, Daniel; Binz, Hansgeorg: Approach for identifying and initially assessing radical product ideas. In: Institute of Electrical and Electronics Engineers, Inc (Hrsg.): Conference Proceedings ICE/IEEE ITMC, 2018, S. 744–752