Sie kennen das sicher: Eine großartige externe Idee könnte in Ihrem Unternehmen einen Prozess beschleunigen oder verbessern – aber die Idee wird sofort abgelehnt. Ein klarer Fall von “Not-invented-here“-Syndrom (NIH)!
In diesem Artikel gehen wir der Frage nach, was sich hinter dem NIH-Syndrom verbirgt, wie man es erkennen kann und wie Sie in Ihrem Unternehmen damit umgehen können.
Zum besseren Verständnis des Themas folgt hier zunächst eine Definition des „Not-invented-here“-Syndroms.
In einer Organisationskultur mit dem NIH-Syndrom weigern sich Personen oder Gruppen, Ideen, Lösungen oder Technologien von externen Quellen anzunehmen oder aufzugreifen. Diese Organisationen bevorzugen intern entwickelte Lösungen und haben eine Aversion gegenüber Innovationen, die anderswo entwickelt wurden, selbst wenn sie möglicherweise besser oder effektiver wären. Dahinter steckt häufig ein Mix aus Stolz, Angst vor Veränderungen und dem Wunsch, die Kontrolle über Ideen bzw. die Steuerung von Projekten zu behalten.
Organisationen mit dem NIH-Syndrom neigen dazu, externes Fachwissen zu unterschätzen und externe Innovationen abzulehnen. Dadurch verpassen sie Chancen für Wachstum, Fortschritt und Zusammenarbeit. Das Syndrom zeigt sich in vielen Ausprägungen: Zum Beispiel werden intern Lösungen entwickelt, die bereits extern existieren, die Vorteile von Zusammenarbeit mit externen Partnern werden ignoriert oder externe Ideen bzw. Technologien aufgrund von Vertrauensmangel nicht berücksichtigt. Das NIH-Syndrom behindert Innovation, begrenzt den Zugang zu neuem Wissen sowie frischen Impulsen und schafft ein isoliertes Umfeld in der Organisation.
Werfen wir einen Blick auf ein paar Beispiele für das “Not-invented-here“-Phänomen, um zu verstehen, in welcher Form es konkret auftreten kann.
Der junge Erfinder Alexander Graham Bell suchte einst nach einem Partner zur Vermarktung seiner Idee für ein Telefon – dem Gerät, das die Kommunikationsbranche revolutionieren sollte. Er wandte sich an den US-amerikanischen Marktführer Western Union, der viel in die Verlegung von Telegrafendrähten entlang der Eisenbahnschienen investiert hatte, um den Kontinent zu vernetzen.
Trotz seiner vielversprechenden Idee stieß Bell auf Ablehnung. Western Union-Präsident William Orton, damals ein angesehener Elektroexperte, kommentierte kühl: "Dieses Patent hat keine Substanz, und der Plan dahinter ist auch nur Spielerei. Selbst wenn das Gerät einen Wert hätte, verfügt die Western Union bereits über ein älteres Patent… was das Bell-Gerät so gut wie wertlos macht."
Kodak litt ebenfalls unter dem NIH-Syndrom: Sowohl die Idee von Edwin Land für das Polaroid-Verfahren als auch die Xerographie von Chester Carlson wurden abgelehnt. Sie sehen, wie schnell man dazu neigt, sich gegen externe Ideen von außen zu wehren.
Der amerikanische Historiker Elting E. Morison zeigt in seiner faszinierenden Studie "Gunfire at Sea" (Geschützfeuer auf See), wie Innovation im Dauerfeuergefecht auf US-Kriegsschiffen Einzug hielt. Im späten 19. Jahrhundert war die Treffsicherheit der Marine gering – weniger als 3 % der abgefeuerten Geschosse trafen ihr Ziel. Das ergab eine Untersuchung von 1.000 Geschossen des US Bureau of Ordnance während einer Übung zur Zeit des Spanisch-Amerikanischen Krieges.
Gleichzeitig arbeitete Admiral Percy Scott von der britischen Marine im weit entfernten Südchinesischen Meer an einer Lösung. Auch sein Geschwader erzielte bei Schießübungen durchweg schlechte Ergebnisse – bis auf die Besatzung des Schiffes (mit dem etwas ungeschickten Namen) HMS Terrible: Sie überzeugte durch erstaunlich hohe Treffsicherheit aufgrund eines neuartigen Zielfernrohrs. Scott förderte die neue Methode, das sogenannte "Continuous-Aim Gunfire“, schulte seine Besatzung, und schließlich adaptierten die Briten das System flottenweit.
Der faszinierendste Teil der Geschichte folgt aber noch: Ein junger amerikanischer Leutnant, William Sims, der zum britischen Geschwader abkommandiert worden war, erfuhr von dem Test des US Bureau of Ordnance. Er sah eine Chance, sich einen Namen und Karriere zu machen – und schlug seinen Vorgesetzten in Washington das weitaus bessere britische System vor.
Doch es kam, wie es kommen musste: Der Vorschlag von Sims und die neue Technik der Briten stießen in den USA auf starken Widerstand. Selbst ein Vergleichstest auf dem Festland wurde manipuliert, um die Überlegenheit des neuen Systems im Umgang mit beweglichen Zielen auf See zu negieren. Erst durch das Eingreifen von Präsident Franklin D. Roosevelt konnte die US-Marine überzeugt werden, das effizientere britische System zu übernehmen.
Das "Not Invented Here"-Syndrom entsteht nicht einfach aufgrund einer veralteten Einstellung. In den meisten NIH-Fällen gibt es durchaus gute Gründe für die Vorsicht, beispielsweise potenzielle Unvereinbarkeiten mit dem Kerngeschäft, das Risiko, bestehende Aktivitäten zu gefährden bzw. zu kannibalisieren oder auch Unsicherheit im Hinblick auf neue, unerprobte Technologien. Die eigentlichen Ursachen sind aber subtiler und haben vielfach mit Fragen wie Gruppenidentität oder Abwehrmechanismen zu tun.
Wir sprechen zuweilen vom “Immunsystem“ eines Unternehmens, und diese Metapher passt gut, denn sie spiegelt genau das wider, was das Immunsystem für unseren Körper tut: Es schützt uns vor Gefahren von außen. Das Bild des Widerstands gegen fremde Ideen im NIH-Syndrom gleicht also in vielerlei Hinsicht unserem fürsorglichen Immunsystem.
Psychologen wie Alex Haslam haben in Studien die Wahrnehmung von kreativen Ideen aus unterschiedlichen Quellen untersucht. Die Ergebnisse sind aufschlussreich: Ideen, die innerhalb einer Gruppe entstehen, wurden hoch bewertet und geschätzt – Ideen von außerhalb der Gruppe wurden dagegen von den Gruppenmitgliedern als wenig innovativ oder wertvoll betrachtet.
Um herauszufinden, wie stark ausgeprägt das NIH-Syndrom in einem Unternehmen ist, sollte man sich vor allem die Einstellungen, Verhaltensweisen und Entscheidungsprozesse von Personen und Gruppen genauer ansehen. Die folgenden Ansätze können dabei helfen, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen:
Im Folgenden finden Sie eine Checkliste mit einfachen, aber bewährten Tipps für den Umgang mit dem “Not-invented-here“-Syndrom in Ihrer Organisation:
Abschließende Überlegungen
Das “Not-invented-here“-Syndrom kann Fortschritt, Innovation und Zusammenarbeit in Unternehmen erheblich behindern. Wenn externe Expertise unterschätzt und Innovationen von außen abgelehnt werden, verpassen Unternehmen wertvolle Chancen für Wachstum und Verbesserung. Wer externe Ideen und Technologien ignoriert, riskiert damit, dass eine abgeschottete, isolierte Umgebung entsteht, die den Zugang zu neuen Erkenntnissen und Perspektiven stark einschränkt.
Es ist wichtig für Organisationen, das NIH-Syndrom und seine negativen Auswirkungen zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen, die Offenheit, Zusammenarbeit und die Wertschätzung externer Beiträge fördern. Dadurch kann eine lebendige Innovationskultur geschaffen werden, die externe Ideen aktiv integriert – und letztendlich den Erfolg in einer sich schnell wandelnden Geschäftswelt vorantreibt.