Wer sich näher mit dem Ideenmanagement, KVP oder auch der Lean-Methodik beschäftigt, kommt früher oder später am japanischen Begriff Kaizen vorbei. Die Kaizen Methode – die Kunst, mit kleinen Schritten große Veränderungen herbeizuführen – wird weltweit erfolgreich praktiziert. Was steckt genau hinter der „sanften“ Technik aus Fernost – und wie können wir im Westen sie noch besser nutzen?
Viele kennen Kaizen als Konzept zur „kontinuierlichen Verbesserung“ aus der Arbeitswelt. Der Name setzt sich zusammen aus den japanischen Begriffen „Kai“ („Veränderung“) und „Zen“ („zum Besseren“). Die Kaizen Methode zielt darauf ab, Unternehmen täglich besser zu machen – durch viele kleine Schritte. Dafür bietet Kaizen eine Reihe nützlicher Werkzeuge an. Kaizen ist aber noch viel mehr: eine Arbeits- und Lebensphilosophie.
Eine Idee geht um die Welt
Entwickelt wurde Kaizen nach dem zweiten Weltkrieg vom japanischen Autohersteller Toyota als Managementkonzept, um die brachliegende Wirtschaft in der Heimat anzukurbeln. Weltweit bekannt wurde das Prinzip in den 1980er Jahren, durch Masaaki Imai, der die erfolgreichen Strategien japanischer Manager unter dem Schlagwort “Kaizen“ zusammengefasst und 1985 auch ein eigenes Kaizen-Institut ins Leben gerufen hat. Mit seinem Buch “Kaizen: Der Schlüssel zum Erfolg der Japaner im Wettbewerb“ wurde das fernöstliche Prinzip ab 1986 schlagartig auch international populär, vor allem in den USA und Europa.
Im Westen wurde die Kaizen Methode eine der Kernpraktiken im Lean Management zur Verschlankung und Vereinfachung von Prozessen. Und bei uns entwickelte sich in den 1990ern in Adaption der Idee der Begriff KVP (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess). Heute werden Kaizen und KVP im Ideenmanagement oft synonym verwendet. Auch bei KVP geht es ja um „kontinuierliche Verbesserungsprozesse“ und darum, die Wettbewerbsfähigkeit in Unternehmen beständig in kleinen Schritten zu verbessern. Aber sind KVP und Kaizen wirklich identisch?
Kein Tag ohne Verbesserung
Gehen wir nochmal zurück zu „Mr. Kaizen“: Masaaki Imai hat den Kern der Idee so formuliert: „Die Botschaft von Kaizen heißt, es soll kein Tag ohne irgendeine Verbesserung im Unternehmen vergehen.“ Und auf der Seite seines Kaizen Instituts heißt es: „Improving the World with Everyone, Everywhere, Every Day – The Kaizen Way.“ Lassen wir die folgenden Zitate auf uns wirken, dann wird es klarer:
„Kaizen ist ein endloser Prozess.“ – Akio Toyoda, CEO von Toyota
„Wenn ich gefragt werde, was Toyota gegenüber anderen Firmen differenziert, so lautet die Antwort: Jeder versteht, es gibt kein Ende für Kaizen.“ – Fujio Cho, ehemaliger Chef von Toyota
„Kaizen ist kein Ziel, sondern eine Reise; ist kein Sprint, sondern ein Marathon; ist keine Aufgabe, sondern eine Einstellung; ist das Einfache, was schwer zu machen ist." – Quelle: unbekannt
Wir sollten bei Kaizen unterscheiden zwischen der Methodik („wie“) und der Haltung („warum“). Und auch genauer auf die unterschiedlichen Kulturen schauen, die mit Kaizen bzw. KVP arbeiten.
Schauen wir auf die Methodik. Ziel beider Ansätze ist die langsame, aber dafür nachhaltige Verbesserung. Im Fokus steht nicht die sprunghafte Veränderung durch Innovation, nicht der schnelle finanzielle Gewinn, sondern die schrittweise Optimierung von Produkten und Prozessen. Um ihre Wirkung voll und erfolgreich entfalten zu können, müssen Kaizen bzw. KVP im Unternehmen auf allen (Hierarchie-)Ebenen gelebt werden. Jeder einzelne Mitarbeiter – vom Top-Manager bis zum Arbeiter – soll Verbesserungsvorschläge zu Problemen einbringen, die er bei seiner täglichen Arbeit beobachtet: ob zum eigenen Aufgabenbereich, zu einem bestimmten Prozess, zu Technik oder Arbeitsbedingungen. Jede noch so kleine Idee, so der Gedanke, kann einen großen Unterschied machen. Die folgenden Eckpfeiler bilden die Basis für das „Wie“.
Kaizen: Die 5 zentralen Grundpfeiler
Probleme lösen mithilfe von PDCA: PLAN - DO - CHECK - ACT
(1) Prozessorientierung: Kaizen stellt nicht Ergebnisse, sondern Prozesse in den Fokus. Prozessorientierung bedeutet vor allem, einen Prozess exakt zu dokumentieren und den Prozessstandard weiter zu verbessern.
(2) Kundenorientierung: Kaizen sagt „Der Kunde ist König“ und unterteilt in interne und externe Kunden: Externer Kunde ist der Endverbraucher, interner Kunde ist der Kollege (z. B. in einer Zweigstelle). Durch gemeinsame Problemlösung mit allen Fachbereichen entwickelt der einzelne Mitarbeiter ein Verständnis für die Prozessabläufe und Bedürfnisse seines/r internen Kunden – die Qualität wird so stetig verbessert.
(3) Qualitätsorientierung: Kaizen arbeitet mit ständigen Qualitätskontrollen und hohen Qualitätsstandards. Dafür werden für jedes Produkt präzise Qualitätskennzahlen und aufwändige Messverfahren verwendet.
(4) Kritikorientierung: Kaizen sieht Kritik als Chance zur ständigen Verbesserung – sie ist nicht nur erlaubt, sondern explizit erwünscht. Jeder Mitarbeiter kann Verbesserungsvorschläge einbringen, die anschließend auf ihre Nutzbarkeit hin geprüft werden. Bei positiver Gesamtbewertung wird die Idee in Firmenprozesse integriert bzw. implementiert. So ergibt sich ein endloser Zyklus mit stets wiederkehrenden Aufgaben: Plan→ Do→ Check → Act, kurz PDCA. Mittels PDCA werden alle Aktivitäten stetig analysiert & verbessert (s. Grafik oben).
(5) Standardisierung: Wird eine Verbesserung umgesetzt, die sich als geeignet erwiesen hat, wird sie als neuer Standard festgelegt und in den Prozess integriert, mithilfe des sogenannten SDCA-Zyklus: Standardize → Do → Check → Act. Erst nach komplett abgeschlossener Standardisierung beginnt wieder alles von vorne.
Zur Unterstützung im Arbeitsalltag bietet die Kaizen Methode eine Art Werkzeugkasten an – eine Reihe nützlicher Tools und praktischer Verhaltensregeln, die jeder Mitarbeiter einsetzen und befolgen soll. Zu den bekanntesten Methoden – auch im KVP – zählen 3-Mu:
- 3-Mu: dient der Vermeidung von Verschwendung (Muda), Überlastung (Muri) & Abweichung (Mura)
- 5S: dient der Standardisierung & Ordnung von Arbeitsplätzen für effektiveres, stressfreieres Arbeiten
- TQM: (Total-Quality-Management) dient der Überprüfung & Dokumentation sämtlicher Prozesse im Hinblick auf die Qualitätsplanung (dazu später mehr)
Kaizen & KVP: Philosophie vs. Methodik
Die Kaizen-Idee ist naturgemäß eng mit der japanischen Mentalität und Kultur verknüpft: Die Gemeinschaft, ein unerschütterlicher Arbeitsethos, das Streben nach Perfektion, u. a. verkörpert durch „Zen“ – all diese Werte spielen in der japanischen Kultur eine Schlüsselrolle, sind fest verankert im Denken jedes Japaners.
Permanente Veränderung und Verbesserung in allen Bereichen haben Japaner von klein auf so verinnerlicht – sie denken gar nicht darüber nach, sondern leben Kaizen ganz selbstverständlich. In der japanischen Praxis ist Kaizen also keine Methode, sondern eine Lebens- und Arbeitsphilosophie. Bei uns sieht die Sache – kulturbedingt – ein wenig anders aus, wie die folgende Grafik zeigt:
East vs. West: Unterschiedliche Denk- & Arbeitsweise
Eine „Eins-zu-Eins-Übertragung“ der Kaizen-Idee auf westliche Verhältnisse – man ahnt es – ist kaum möglich. Gemäß Kaizen kommt die Verbesserung von überall aus dem Unternehmen, jeder Mitarbeiter trägt dazu bei – der CEO ebenso wie der Teamleiter oder Arbeiter in der Produktion. Auch bei uns stehen die Menschen im Mittelpunkt – im Unterschied zu Japan sind aber in der Regel nicht alle Mitarbeiter in den Gesamtprozess involviert. Dort wird der Prozess „Bottom-up“ gelebt: von unten nach oben, bei uns „Top-down“: von oben angestoßen und nur „unten“ gelebt. Ein enormer Unterschied! Oder wird KVP bei Ihnen „japanisch“ gelebt? Wie soll das gehen?
Kaizen-Gründervater Masaaki Imai sieht noch einen wichtigen Unterschied in japanischen Unternehmen: „Die damit verbundene prozessorientierte Art zu denken gegenüber dem westlichen innovations- und ergebnisorientierten Denken." In vielen Firmen bleibt Kaizen deshalb reine Theorie. Da werden einfach punktuell Kurse wie Kaizen Super, Kaizen Blitz oder Kaizen Best Practice von oben „verordnet“. In den Köpfen der Mitarbeiter bleibt nur hängen: Kaizen ist eine Technik, die sich mal schnell in wenigen Stunden oder 1, 2 Tagen erlernen lässt. Der ganzheitliche Ansatz, die zugrundeliegende Leitidee von Kaizen, die auch im KVP zum Tragen kommen soll, wird so weder verstanden noch tagtäglich praktiziert.
„Hören und verstehen ist nicht ausreichend. Du musst Kaizen täglich praktizieren. Es muss zu Deiner Fähigkeit, Deiner Philosophie und zu Deinem Verständnis werden. Dadurch entsteht und entwickelt sich Dein eigener Weg.“ – Chihiro Nakao
Das Management muss die Kaizen Methode verankern und (vor)leben
Fakt ist: Die europäische Kultur unterscheidet sich fundamental von der japanischen. Doch viele Anregungen aus dem Kaizen können auch bei uns erfolgreich und nachhaltig wirken. Dazu muss aber zuerst die Chefetage umdenken: Auch sie ist gefordert, „jeden Tag etwas besser zu machen“ und für sich selbst zu prüfen, inwieweit die Bereitschaft vorhanden ist, aus Mit-Arbeitern wirklich Mit-Denker zu machen. Und: Führungskräfte müssen es auf Dauer aushalten, dass Aufgaben anders erledigt werden als sie es gewohnt sind. Damit geht meist ein kultureller Wandel einher – nur so können alle Mitarbeiter eine neue Einstellung zu ihrer Arbeit bekommen, das Kaizen-Prinzip verinnerlichen. Das braucht Zeit, Geduld und Disziplin.
Aber wie geht es denn konkret: Kaizen als universelle Denkweise im Unternehmen verankern und „auf europäische Art“ leben? Hier ein Überblick zu den wichtigsten Schritten:
Vorbereitung – mit Kaizen starten:Kaizen erfordert einen kooperativen Führungsstil. Wichtig ist also eine gemeinsame, klare Zielformulierung und ein transparenter Konsens statt einsamer Einzelentscheidungen „von oben“. Als Einstieg empfiehlt sich ein Strategieworkshop mit dem gesamten Führungsteam, bei dem zunächst die Ziele und Kaizen-Roadmap definiert werden und sich das Management in schriftlicher Form zur Kaizen-Umsetzung verpflichtet. In einem gemeinsamen Event mit (Top-)Management, Betriebsrat und der gesamten Belegschaft werden anschließend das Grundprinzip von Kaizen vorgestellt, Idee, Strategie und Ziele für das Unternehmen erörtert. Auch Koordinatoren und Moderatoren können eventuell schon gewählt bzw. benannt werden.
Integration – Kaizen anwenden:
Unsere Empfehlung: Regelmäßiges Training On the Job mit parallellaufenden Pilotprojekten. Flankierende Maßnahmen, z.B. 5S-Aktionen (mit Management); Grundschulung bzw. vertiefende Aufbauschulungen / Workshops, Ausbildung von Koordinatoren und Moderatoren
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Regelmäßige Schulungen für alle Mitarbeiter & Weiterbildung für Moderatoren (auch extern)
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Wissenstransfer durch interdisziplinäre Treffen & standortübergreifenden Austausch
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Transparenz, Dokumentation, Information: zu allen laufenden Aktivitäten, Ergebnissen & Erfolgen
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Stete Erfolgskontrolle, Verbesserungen der Aufbau- & Ablauforganisation
Wie Kaizen-Kultivierung in der Praxis gelingen kann, zeigt das Best Practice eines Automobilzulieferers: Zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit wurde dort 2018 für die Laufzeit von 2 Jahren ein Kaizen Transformation Programm aufgesetzt, dessen Roadmap auf vier Säulen basiert: Kaizen für Teams im Tagesgeschäft, Kaizen für Führungskräfte, Kaizen in Projekten und Kaizen in Infrastruktur & Governance. Im Tagesgeschäft unterstützen beispielsweise praxisnahe Maßnahmen zur Mitarbeiter-Entwicklung, wie Morning Meetings, Teamboards, Visualisierung und Erfolgsmessgrößen. In Projekten wurden auf Basis einer Wertstromanalyse und Optimierung zentraler Wertströme aus Kundensicht diverse Kaizen-Projekte abgeleitet und mit der PDCA-Methode durchgeführt. Das Programm zur positiven Verankerung des Kaizen-Mindsets in der gesamten Organisation hatte durchschlagenden Erfolg: In nur sechs Monaten kletterte das deutsche Werk in Sachen Kaizen Transformation vom letzten auf den ersten Platz.
Eines ist klar: Kaizen ist ein fortlaufender Prozess – ein Prozess, der niemals endet. Organisationen, die das Prinzip jeden Tag engagiert und konsequent im gesamten Unternehmen umsetzen, können die Vorzüge voll ausschöpfen. Hier die wichtigsten Vorteile einer etablierten Kaizen-Kultur:
- Kosteneinsparungen: Durch stete, schrittweise Optimierung, Vermeidung von Verschwendung etc.
- Besseres Betriebsklima: Alle Mitarbeiter sind Teil des Prozesses, wirken bei der Entwicklung mit und verbessern sich. Die Denkweise ändert sich grundlegend. Aus einer Ergebnis- wird Sinngemeinschaft!
- Bessere Zusammenarbeit: Durch fach-/standortübergreifende Gruppenarbeit, gemeinsame Meetings und Workshops. Alle sind automatisch auf demselben Wissensstand, sprechen dieselbe Sprache.
- Höhere Mitarbeitermotivation: Mitarbeiter können eigenverantwortlich arbeiten und sehen, dass auch ihre kleinen Ideen und Verbesserungsschritte wichtig sind. Sie sind viel eher bereit, sich zu engagieren.
- Gesteigerte Produktivität: weniger Ausschuss, Bestandsreduzierung, kürzere Durchlaufzeiten
- Höhere Produktqualität = höhere Kundenzufriedenheit
Was Kaizen uns mitgeben kann
Durch die Kaizen Methode verbessern wir nicht nur Prozesse bei der Arbeit – wir verbessern automatisch auch uns selbst. Eine DNA der Nachhaltigkeit kann entstehen. Das funktioniert auch hervorragend im Alltag, zum Beispiel mit dem Prinzip der 5S:
• Seiri (Sortieren): Konzentrieren Sie sich auf die wirklich wichtigen Arbeitsmittel und entfernen Sie alles, was Sie stört oder von der eigentlichen Arbeit ablenkt.• Seiton (Systematisieren): Ordnen Sie Ihre Dinge sinnvoll (z.B. durch Beschriftung von Ordnern)
• Seiso (Sauberkeit): Halten Sie Ihren Arbeitsplatz immer schön sauber!
• Seiketsu (Standardisieren): Machen Sie Ordnung und Sauberkeit am Arbeitsplatz durch Festlegen von Standards zur Gewohnheit. Idealerweise planen Sie dafür jeden Tag fünf Minuten ein.
• Shitsuke (Selbstdisziplin): Machen Sie 5 S zu Ihrem persönlichen Anliegen, bleiben Sie am Ball!
Schlecht optimierte Prozesse und fehlende Arbeitsplatz-Organisation im Büro sind riesige Zeitfresser. Mehr als ein Viertel der täglichen Arbeitszeit gehen dadurch verloren. 12 Tage im Jahr verbringen Mitarbeiter allein mit der Suche nach Informationen oder Material. Die 5S-Methode erhöht obendrein die Arbeitssicherheit, denn – so der japanische Gedanke dahinter – Ordnung und Sauberkeit führen automatisch zu mehr Sicherheit. Natürlich hilft 5S auch im privaten Umfeld – man denke nur an übervolle Kleider- und Schuhschränke. Ein weiteres nützliches Kaizen- bzw. KVP-Werkzeug ist 3 Mu:
• Muda (Verschwendung): Muda umfasst 7 grundlegende Prozessverschwendungen: Überproduktion, Bestände, Transport, Wartezeiten, zu aufwändige Prozesse, unnötige Bewegung, Fehler
• Muri (Überlastung) von Mitarbeitern oder Maschinen
• Mura (Abweichung) von Standards oder Regeln
Konzentration auf die wirklich wichtigen Dinge, weniger Ballast – Verbesserungspotenziale gibt es viele. Ob am Arbeitsplatz oder im Alltag: Der Einsatz von Kaizen ist so gut wie immer und überall möglich – ohne großen Aufwand. Mehr Sport machen, bessere Ernährung, eine neue Sprache lernen, die Finanzen optimieren, Plastik reduzieren: Machen Sie jeden Tag nur einen kleinen Schritt, dann wird es zur neuen Gewohnheit. Jeder kann so auf „sanfte“ Art seine Ziele erreichen. Kaizen hört nie auf. Fangen Sie einfach an.